Erinnerungen an die Zukunft

Ehrfurcht und Zuneigung für die Menschen am Straßenrand
Erinnerungen an die Zukunft

Bilder und Lieder aus russischen Dörfern

Von J. Fleicher

Moskau ist weit. Russland noch weiter. Die alten Männer auf Pawel Kostomarows Fotografien sind nah und fremd. Der Moskauer Kameramann ("Der Haltepunkt", Silberne Taube beim diesjährigen Dokfilm-Festival) traf die Dorfbewohner auf seinen Fahrten mit Regisseur Sergej Losnitza von Moskau nach St. Petersburg. "Es gibt Leute, an denen kann man einfach nicht vorbeifahren", sagt Losnitza. Sie stehen am Straßenrand als Zeugen einer vergangenen Zeit und als warteten sie auf eine andere.
Ihre Dörfer, 150 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, sind vergessene Orte, längst verlassen von den Jüngeren. Nur die Enkel kommen in den Sommerferien vorbei. "Das russische Dorf zwischen nicht enden wolldender Vergangenheit und nie eintretender Zukunft" heißt das Gesamtkunstwerk im Leipziger Haus des Buches, dessen Rahmen seit einer Woche die Bilder Kostomarows geben: "Menschen im Zwischenraum". Der 1975 in Moskau Geborene will das Vergängliche dokumentieren. Seine Fotos hängen jetzt in den Hütten neben den Bildern von Hochzeit und Einzug zur Armee. "Das ist eine große Ehre", sagt er.
Nach den Lesungen von Gegenwart und Zukunft Russlands wird heute die Sängerin Jelena Frolowa "In das Land von Traum und Einsamkeit" reisen. Die 31-Jährige pflegt Jahrhunderte alte geistliche Gesänge, die in den Dörfern überdauert haben - nahezu unverändert. Zu Gusli und Gitarre erweitert sie herkömmliche Vorstellungen von russischer Volksmusik. Die Ewigkeit ist ungewiss geworden. Bleibt die Weite.


Leipziger Volkszeitung, 15.12.2000
     
     
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Mit Dokumenten die Zeit festhalten - das Leipziger Haus des Buches zeigt Arbeiten des Fotografen Pawel Kostomarow über das russische Dorf

Von J. Fleicher

Das Alter des Mannes lässt sich kaum schätzen. Ein weißer Bart versteckt sein Gesicht, die Schapka ist in die Stirn gezogen. So steht er am Straßenrand, wirkt verkleidet aus dem Fundus der Jahrhundertwende. Auch das Hausdach im Hintergrund bezeugt vor allem Vergangenheit. Immerhin gibt es Straßenlaternen, ob sie funktionieren, sieht man nicht. Es ist Tag, und der Mann steht mit einem Beutel in der Hand am lange verblassten Seitenstreifen.
"Das ist Filoret Wassiljewitsch", erzählt der Fotograf der Ausstellung, Pawel Kostomarow. Seine "Menschen im Zwischenraum" sind noch bis 11. Januar im Leipziger Haus des Buches zu sehen. 46 Fotografien, die die Veranstaltungsreihe "Das Russische Dorf zwischen nicht enden wollender Vergangenheit und nie eintretender Zukunft" umrahmen. "Filoret Wassiljewitsch ist Tischler und stellt Holzräder für Pferdekutschen her. Wir trafen ihn, als er leere Flaschen aufsammelte, weil das mehr Geld bringt, als sein Beruf", errinnert sich Kostomarow wie ein Enkel an seinen Großvater - mit leuchtenden Augen und nachsichtigem Lächeln. Vielleicht ist es der Blick des Dokumentarfilmers, der von Menschen am Straßenrand nicht lassen kann. Es war die Arbeit an ihrem Film "Haltepunkt", beim diesjährigen Leipziger Dokfilm-Festival mit der Silbernen Taube ausgezeichnet, die Regisseur Sergej Losnitza und seinen Kameramann Pawel Kostomarow regelmäßig von Moskau nach St. Petersburg führte. "Am Anfang war einfach Neugier", sagte der Regisseur, "Interesse für die Oberfläche: Gesichter, Kleidung, Gestik, Haltung." Bald aber habe sich das Gefühl eingestellt, dass in den Fotos mehr steckt als nur Befriedigung eines professionellen Interesses. Dass sich "in ihnen, zusammengenommen, ein Bild dessen abzeichnet, was passiert, ein Zustand".
Der Zustand einer russischen Gegend, die in keine Gesellschaftsordnung passt, auch wenn es bis zur Wende dort Kolchosen gegeben hat. Heute leben die Menschen von Landwirtschaft für den Eigenbedarf, verkaufen ein paar Äpfel, Beeren, Pilze oder Kartoffeln an durchreisende Städter, die sich über die niedrigen Preise freuen. Sammeln deren liegen gelassene Flaschen, weil es dafür Geld gibt. "Wie in der DDR", ergänzt der Fotograf. Und wie für Metall. Darum sind die Verkehrsschilder hier inzwischen aus Pappe.
"Es ist wichtig, Dokumente zu schaffen, die Zeit festzuhalten" begründet darum der 25-jährige Moskauer sein Interesse an den anderen Lebensumständen, die er "überraschend, neu und fremd" empfindet. Es waren hauptsächlich Männer, die sich von ihm festhalten ließen. Manche blieben nur eine Minute stehen und gingen schnell ihrer Wege, andere luden den Gast in ihr Haus. Dort hängt sein Porträt jetzt neben denen von Hochzeit und Armee. Die Frauen dagegen wirkten schüchtern. "Das liegt wohl an ihren traditionellen Rollen in den Gemeinschaften", vermutet der Hauptstädter. Er hat zunächst im Fotoklub "Nowator" gelernt, später an der staatlichen Filmhochschule Kamera studiert, als Assistent und Fotograf bei den Dokumentarfilmern Marat Magambetow und Sergej Losnitza ("Heute bauen wir ein Haus") gearbeitet. Das mag sein Auge weiter geschult und ihm die Ruhe bewahrt haben, die aus seinen Schwarzweiß-Bildern spricht. Eine Ruhe aus Ehrfurcht und Zuneigung. "Menschen im Zwischenraum" ist Kostomarows erste Ausstellung in Deutschland. Eine russische Variante, den Generationenvertrag künstlerisch einzulösen. Sehenswert.


Leipziger Volkszeitung, 20.12.2000

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